Gesellschaftsordnung des Mittelalters: Die geistigen Grundlagen mittelalterlicher Ordnung

Gesellschaftsordnung des Mittelalters: Die geistigen Grundlagen mittelalterlicher Ordnung
Gesellschaftsordnung des Mittelalters: Die geistigen Grundlagen mittelalterlicher Ordnung
 
Gottes Haus sind wir, heißt es sinngemäß im Hebräerbrief (3, 6), und im frühen Mittelalter gehört das Bild vom »Haus Gottes« zu den Grundmustern, die immer wieder ausgebreitet werden, um die von Gott gefügte menschliche Sozialordnung zu beschreiben. Kurz nach der Jahrtausendwende wird die paulinische Haus-Metapher häufig um ein dreigliedriges Ordnungsschema erweitert: Bischof Adalbero von Laon unterteilt das Haus Gottes in die Betenden, die Kämpfenden und die Arbeitenden. »Es gibt drei Stände in der Kirche Gottes: Arbeiter, Krieger, Beter«, weiß auch der Angelsachse Aelfric, und andere Autoren stoßen fast gleichzeitig in das gleiche Horn. Die ständische Dreiteilung der Gesellschaft in Klerus, Adel und Bauern bleibt eine gängige Vorstellung bis in das späte Mittelalter und darüber hinaus. Noch am Vorabend der Französischen Revolution enthielt die berühmte Frage des Abbé Sieyès »Was ist der dritte Stand?« politische Sprengkraft. Dass dies so sein konnte, beweist die Zählebigkeit, aber auch die offenkundige Plausibilität der mittelalterlichen Vorstellung.
 
Es spricht manches dafür, dass die Polemik des französischen Pamphletisten bei den Zeitgenossen Adalberos und Aelfrics ins Leere gegangen wäre. Deutlicher als manchem Aristokraten des Ancien Régime bewusst sein mochte, sahen sie das Eigengewicht jedes der drei Stände und seinen Wert für das Ganze der Gesellschaft. Die Aufgaben greifen ineinander. Jeder Stand ist auf den anderen angewiesen, hat seinen festen Platz und seine klar umrissene Funktion im Haus Gottes. Die Wertschätzung selbst für die vermeintlich niedere Arbeit kann in der Zuspitzung Adalberos die Hierarchien geradezu auf den Kopf stellen. »Kein Freier kann ohne Knechte leben. .. Es wird der Herr vom Knecht versorgt, den er zu versorgen meint.« Aber der Bischof beschönigt nicht, zu deutlich stehen ihm die realen Lebensverhältnisse der unfreien Bauern vor Augen: »Wer könnte mit dem Abakus errechnen oder mit Worten aufzählen die Mühe, die Anstrengungen, die schweren Plagen der Unfreien? Das Weinen und Seufzen der Knechte hat nie ein Ende.« Also doch wie bei Abbé Sieyès im 18. Jahrhundert: Der Stand der Bauern ist eigentlich alles, gilt aber in Wirklichkeit nichts?
 
Jedenfalls müssen wir uns davor hüten, das geistige Modell einer ständisch gegliederten, arbeitsteiligen Gesellschaft mit der sozialen Wirklichkeit gleichzusetzen. Die schematische Deutung der Gesellschaft gründet auf den allgemeinen gelehrten Ordnungsvorstellungen, wie sie Augustinus (354—430) auf die für das ganze Mittelalter verbindlichen Begriffe gebracht hat. »Ordnung ist die Verteilung gleicher und ungleicher Dinge, die jedem den ihm gebührenden Platz zuweist.« Der augustinische Ordogedanke gilt allumfassend und unbegrenzt. Menschen, Tiere, Pflanzen, Gesteine und Gestirne, alle beseelten Wesen und alle unbeseelten Dinge haben ihren festen Platz in Gottes Schöpfungsordnung. Jedes Einzelne ist dadurch definiert und erhält dadurch seinen Daseinszweck, dass es anderen im rechten Maß gleich-, über- oder untergeordnet ist, die Sonne über den Mond, die Engel über die Menschen, die Seele über den Leib. Nichts ist überflüssig oder zufällig im von Gott geschaffenen Bau der Welt, und nichts wird ohne Folgen für das Ganze von seinem Platz gerückt.
 
Die Ordnungsprinzipien, von Augustinus auf der Grundlage der spätantiken Philosophie formuliert, gehören zum Kernbestand gelehrter Traditionen im frühen Mittelalter, und sie gelten selbstverständlich auch, wenn sie auf die menschliche Gesellschaft übertragen werden. Auch hier füllt jeder den ihm von Gott zugewiesenen Platz, wirken die Glieder zusammen in einem geordneten gemeinschaftlichen Ganzen. Es ist eine hierarchische Vorstellung der Gesellschaft, gewiss — anderes wäre im Mittelalter nicht denkbar —, aber die Abstufung nach relativen Wertigkeiten impliziert auch den absoluten Wert und die gleiche Daseinsnotwendigkeit jedes Einzelnen an dem für ihn vorgesehenen Ort. So hat selbst noch der Bettler am Rande der Gesellschaft seine unverzichtbare Aufgabe im Hause Gottes.
 
Noch einmal sei betont: Dies alles sind gelehrte Deutungen der Gesellschaft, keine Abbildungen der Wirklichkeit. Wir werden darauf zu achten haben, inwieweit in den mentalen Konzepten sich doch soziale Realitäten spiegeln.
 
Dr. Arnold Bühler
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Feudalismus: Familie, Haus, Grundherrschaft im Mittelalter
 
Bauern: Das Leben der Landbevölkerung im Mittelalter
 
Rittertum und höfische Kultur: Vom Krieger zum Edelmann
 
Stadt: Stadtentwicklung und Stadtgesellschaft im Mittelalter
 
Mönchtum im Abendland: Bete und arbeite
 
Universität im Mittelalter: Von der Klosterschule zur Alma Mater
 
 
Althoff, Gerd: Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter. Darmstadt 1990.
 Boockmann, Hartmut: Das Mittelalter. Ein Lesebuch aus Texten und Zeugnissen des 6.-16. Jahrhunderts. München 1988.
 Borst, Arno: Barbaren, Ketzer und Artisten. Welten des Mittelalters. Neuausgabe München u. a. 21990.
 Borst, Arno: Lebensformen im Mittelalter. Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main u. a. 141995.
 Ennen, Edith: Frauen im Mittelalter. München 51994.
 Fuhrmann, Horst: Einladung ins Mittelalter. München 41989.
 Goetz, Hans-Werner: Leben im Mittelalter. Vom 7. bis zum 13. Jahrhundert. München 51994.
 Piltz, Anders: Die gelehrte Welt des Mittelalters. Aus dem Schwedischen. Köln u. a. 1982.
 Rösener, Werner: Bauern im Mittelalter. München 41991.
 
Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, herausgegeben von Johannes Fried. Sigmaringen 1986.
 Schulze, Hans K.: Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter.2 Bände. Stuttgart u. a. 2-31992-95.
 Ullmann, Walter: Individuum und Gesellschaft im Mittelalter. Aus dem Englischen. Göttingen 1974.

Universal-Lexikon. 2012.

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